Am 9. November 2021 nahmen Schülerinnen und Schüler des Leistungskurs Geschichte 12 an der Gedenkveranstaltung für die Opfer der Reichspogromnacht teil. Ihre Gedanken trugen sie mit folgendem Redebeitrag vor.[…]

Verehrte Damen und Herren,

heute, am 9. November, versammeln wir uns an der Synagoge in Bad Kreuznach, um gemeinsam an das Unheil und die menschenunwürdigen Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus zu erinnern.

Heute vor genau 83 Jahren hat der Antisemitismus der Nationalsozialisten seinen grauenvollen Ausdruck in der sogenannten „Reichspogromnacht“ gefunden, in der die Lebensgrundlage vieler Zehntausender jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger zerstört wurde.

Es folgten die systematische Ausgrenzung, Entrechtung, Vernichtung. Dem Antisemitismus fielen insgesamt 6 Millionen jüdische Kinder, Frauen und Männer zum Opfer.

Die Würde des Menschen ist unantastbar“; dieser uns allen bekannte Satz bildet nicht nur die Grundlage unseres Grundgesetzes, sondern entspricht gleichsam dem Fundament menschenwürdigen Lebens. Der deutsche Philosoph Immanuel Kant bezeichnet die Würde als einen „absoluten inneren Wert, der über jeden Preis erhaben ist“. Das heißt, die Würde ist vollkommen, sie muss allen Menschen zugesprochen werden. Sie ist nicht bezahlbar und sie ist unvergänglich.

Es ist unsere moralische Verpflichtung, jedem einzelnen Menschen diese Würde zuzugestehen.

Gleichermaßen haben wir die Aufgabe, den Menschen ihre Würde zurückzugeben. Wir würdigen heute im gemeinsamen Gedenken die Menschen, denen damals Unrecht widerfahren ist; die Menschen, denen keine Würde zugestanden wurde.

Wir, Schülerinnen und Schüler des Leistungskurs Geschichte am Gymnasium an der Stadtmauer, hatten im Sommer die Möglichkeit, mit den Brüdern Wilhelm und Wolfgang Merkelbach aus Planig ein Zeitzeugengespräch zu planen und zu führen.

Was haben wir aus der Begegnung und den Gesprächen über die Zeit im Nationalsozialismus und nach Kriegsende für uns persönlich mitgenommen?

  1. Mich hat es bewegt, dass ein alter Mann nicht loslassen kann von der Vergangenheit. Ich habe erkannt, wie die Erfahrungen aus Kindheit und Jugend ein ganzes Leben prägen.

  2. Die Mutter der Brüder Merkelbach wurde nach einer eigentlich harmlosen Bemerkung denunziert und verhaftet. Das Ausmaß der Angst und der Sorge, ob die Mutter jemals zurückkommen würde, hat mich bewegt.

  3. Die Zeitzeugen schilderten ihre Erleichterung über das Kriegsende. Das machte mir nochmal den Wert des Friedens bewusst.

  4. Wilhelm Merkelbach wurde als Jugendlicher zum Reichsarbeitsdienst eingezogen. Die Schilderungen seiner Flucht von Tschechien nach Hause führten mir vor Augen, dass es kein Abenteuer war, sondern ein Leben in ständiger Angst und Unsicherheit bedeutete. Mein eigenes Leben, meine Möglichkeiten und meine Freiheit, kann ich seitdem viel mehr wertschätzen.

  5. Herr Merkelbach erzählte, dass er viel Glück hatte und ihm die Zivilcourage seiner Mitmenschen ihm mehrfach das Leben gerettet habe. Das hat mich beeindruckt.

  6. Die Begegnung mit den Zeitzeugen hat mir Mut gemacht für mein eigenes Leben, auch in schweren Zeiten die Hoffnung nicht aufzugeben.

  7. Herr Merkelbach hatte Fotos mitgebracht von seinen Spielkameraden. Das waren die Kinder der jüdischen Familien Wolf aus Planig. Auch die Eltern waren gut befreundet. Man aß und trank und feierte zusammen. Eine Unbeschwertheit, die 1938 am 9. November ein jähes Ende fand.

Die Frage, die mich bewegt, lautet:

Wer nimmt sich das Recht Freundschaften zu zerstören, Menschen aus ihren Lebensgemeinschaften herauszureißen und aus ihrem Zuhause zu vertreiben?

Was ist mit der Würde all dieser Menschen?

Wir können die Verbrechen der Nationalsozialisten, auch an den jüdischen Freunden Herrn Merkelbachs, nicht rückgängig machen. Mit einer für nächstes Frühjahr geplanten Stolperstein-Verlegung wollen wir die Namen zurückbringen und an das Schicksal u.a. der Familien Wolf erinnern.

Wir haben heute die Chance, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und eine Wiederholung jener zu verhindern. Die Leiterin der Bildungsstätte Anne Frank, Saba-Nur Cheema, sagt: „Die Spur des Antisemitismus reicht bis in die Antike zurück – und er bedroht Menschen auch heute. Wissen ist Voraussetzung, um ihn zu erkennen. Um ihm entgegenzutreten, braucht es Rückgrat.“ Rückgrat zu haben bedeutet für uns, Haltung zu zeigen und den Artikel 1 des Grundgesetzes zu leben. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Jeder Mensch hat einen Anspruch auf Menschenrechte aufgrund seiner Würde, auf den Respekt, der ihm als Mensch gebührt. Dann hat Antisemitismus keine Chance.